Erik Flügges „Kirchenaustritte: Thesen für eine stabilere Kirche“ (20. Juli 2019, primär der vorletzte Absatz) motiviert mich, einen Vergleich christlicher Musik mit der Radiolandschaft zu posten, den ich schon länger im Kopf habe:
Wenn in der Kirche Lieder gesunden werden, geht es darum, Gott die Ehre zu geben und sich als Gemeinschaft der Glaubenden gegenseitig zu bestärken. Das gemeinsame Singen bringt zusammen, die durch Wiederholung ins Herz rutschenden Texte bilden auch in Wüstenzeiten einen Anker an geistlichen Grundwahrheiten und Gottesdienste werden interaktiver wahrgenommen (Ich-bin-beteiligt-Erfahrung). Doch oft scheiden sich am Musikgeschmack die Geister.
Klassische Landeskirchen bauen auf einem Liederbuch auf, das die Hochkultur der letzten Jahrhunderte konserviert. Wertvolle Lieder, die oft stilecht mit der Orgel begleitet werden. Luther würde sich vermutlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass wir immer noch eine Lieder singen, hatte er doch damals Tavernenmelodien umgedichtet, um nah am Volk zu sein. Gleichzeitig sind diese Lieder eine Art Best-Of, die sich über Generationen bewährt haben, weil sie Halt geben und in Krisen tragen.
Als Innovation wurde in den 70ern das moderne geistliche Liedgut entwickelt, dass ähnlich wie die Werke Luthers und Bachs konserviert wurde und daher für heutige Ohren auch nicht mehr wirklich neu klingt.
Bei Gospel und Taize-Gesängen kommt ein wenig Schwung auf, Kinderlieder bringen (erzwungene) Bewegung in den Gottesdienst, insgesamt bleibt es aber eine ernste und gesetzte Veranstaltung.
Junge Gemeinden und Freikirchen sind oft offener für moderne Lobpreismusik, die vom Songwriting her zumindest richtung 90er Jahre geht. Tatsächlich gelten viele der Lieder erst 20 Jahren als etabliert, wenn sie musikalisch eigentlich schon fast als Retro gelten könnten. Klassiker der deutschen Lobpreiskultur findet man in „Feiert Jesus“ Liederbüchern, gleichnamigen CDs oder ähnlichen Reihen. Hier den Überblick zu behalten ist allerdings schwierig und was für die eine Gemeinde aktuelle Hits sind, wird anderswo bereits als veraltet und uncool wahrgenommen. Für manche sind nur internationale Originale (Hillsong, Vineyard, Bethel Music, Rend Collective, …) wirklich hip, die möglichst exakt gecovert und mit Bandbesetzung inszeniert werden. Andere Gemeinden kopieren zwar die Musik, verpflichten sich aber zu deutschen Übersetzungen, die nicht selten unsingbar oder alternativ inhaltlich weit weg vom Original sind. Zudem kursieren von einigen Songs mehrere deutsche Versionen, weil Pioniergemeinden manchmal schneller übersetzen als Standardisierungsprozesse es verbreiten können.
Diese Lieder haben noch keine jahrhundertelange Wirkungsgeschichte, sprechen aber musikalisch in die Jetztzeit hinein. Entsprechend stark ist die emotionale Beziehung, die (junge) Menschen zu den Melodien aufbauen. Ob die Texte dieser Bindung gerecht werden, müsste man im Einzelfall analysieren, was ggf zu wenig geschieht, wenn man sich bewusst macht, dass Lobpreis viele Gottesdienstbesucher stärker prägt als die sauber formulierte Predigt.
Von Musikern und Künstlern schließlich wird Contemporary Worship oft dafür kritisiert, musikalisch zu anspruchslos, zu flach zu schlagerartig-vorhersehbar zu sein. Klar, jeder soll schnell mitsingen können, der Song soll in kleinen Gruppen und im Stadion funktionieren und am besten mit Wandergitarre oder großer Band gut klingen. Aber so wie der Musikmarkt sich ausdifferenziert, brauchen wir auch unterschiedliche moderne Stilrichtungen, um nah dran an den Menschen zu sein. Und wer lange genug sucht, findet das auch: Da gibt es jazzigere Interpretationen, Sambarhythmen, Techno-Worship, Swing- und Punk-Varianten Gott zu loben. Zwischen Filmorchester und HeavyMetal ist jede Stilrichtung auch im „post-modernen geistlichen Liedgut“ vertreten. Nur in den Gottesdiensten trauen sich viele Gemeinden nicht so ganz, mit innovativen Formen zu experimentieren. Zum einen, weil es mit Amateurmusikern nicht so einfach ist, eine wirklich hochwertige Umsetzung zu garaniteren, zum anderen, weil extremere Stilrichtungen stärker binden aber auch stärker abstoßen. Der klassische Klavier-und-Gitarre-mit-Cajon-lastige Lobpreisstil bringt wohl die meisten Generationen zusammen, wenn er auch für viele nur halbwegs passend ist.
Diese Erkenntnis hat mich schon vor einigen Jahren zu einem Vergleich gebracht, warum es gut ist, unterschiedliche Musikstile in christlichen Gottesdiensten zu fördern. Ich habe damals in Hessen gelebt und bin in den 90ern mit einer öffnetlich rechtlichen Radiolandschaft von vier Sendern aufgewachsen:
- HR1 für gediegene Infos, Sport, niveauvolle aber massentaugliche Musik der letzten 50 Jahre.
- HR2 für Klassik und niveauvolle Bildung, die wertvoll ist, aber oft eher sperrig wirkt.
- HR3 als locker flockige moderne Unterhaltung mit viel Chartmusik und nebenbei eingestreuten Infos.
- HR4 für Schlager- und Heimatfreunde mit harmonischen Wohlfühlklängen aus der „guten alten Zeit“ zur Selbstvergewisserung.
Ähnliche Aufteilungen gab es vermutlich in den meisten Regionen. In diesem Schema sind vermutlich die meisten landeskirchlichen Gottesdienste eher im HR2-Spektrum anzusiedeln, Kirchentagsbewegungen und Gemeindefeste tendieren eher zu HR4, moderne Landeskirchen und klassische Freikirchen eher zu HR1 und die innovativen Jugendbewegungen zu HR3. (Ich will damit niemandem zu nahe treten, jeder möge sich im Zweifel selber einordnen!)
Für die, denen das Spektrum insgesamt zu eng wurde, gab es das Privatradio FFH (die charismatischen Gemeinden?), das Radio der US-Streitkräfte AFN (internationale Missionsgemeinden?) oder das lokale Bürgerradio RUM (Teestubenbewegung?).
Gefühlt mitte der 90er Jahre startete ein weiterer ÖR Jugendsender für die, denen selbst HR3 zu konservativ war. Weitere Privatradios, neue Infokanäle und digitale Streamingdienste, die das Radiohören stark individualisiert haben kamen dazu. Heute lässt man sich meist das persönliche Musikprogramm gespickt mit den Lieblingspodcasts als Infoquelle vone inem Algorithmus zusammenstellen.
Ähnliches erleben wir auch im geistlichen Spektrum. Gerade im städtischen Bereich sucht man seinen Gottesdienst nicht mehr nach Denomination oder theologischen Positionen, sondern nach Uhrzeit und Musikstil aus. Mitunter ist auch ChurchHopping passend, wenn man sich nicht festlegen will und zwischendurch streamt man sich internationale Lobpreismusik auf die Couch. Einige besonders hippe Gemeinden werden mittlerweile nicht mehr um Starprediger, sondern um besondere Lobpreis-Pastoren gebildet. Insgesamt haben wir als Christenheit so die Möglichkeit, viele Menschen da abzuholen, wo sie stehen, haben aber gleichzeitig die Herausforderung, dass wir Menschen den Wert von genreübergreifender Gemeinschaft ganz neu vermitteln müssen. Es geht eben nicht nur darum, die für mich perfekt abgestimmte Musik zu finden, sondern darum, sich darauf einzulassen, am Fremden zu wachsen und die horizonterweiternde Begegnung über die reine Selbstverwirklichung zu stellen.
An der Stelle versagen viele Landeskirchen im Übersetzungsprozess, die beim Stadtfest den Posaunenkreis antreten lassen genauso wie Freikirchen, die das Worshipteam unmoderiert auf die Marktplatzbühne schicken.
Gute Ansätze sind christliche Musiker, die technisch so gut sind, dass sie im Jazzkeller jammen, beim Sommerfest Charthits covern und zwischendurch selbstgeschriebene Songs mit tiefgängigem aber anschlussfähigem Text darbieten. So kann Kirche mit hoher zeitgemäßer Kultur überzeugen und zum Gottesdienst einladen, wo solche Musiker aus geistlichen Liedern aller Zeiten individuell passende Kunstwerke zur Ehre Gottes machen. Da darf die Orgel, das Schlagzeug und der Synthesizer gemeinsam mit Klavier und E-Gitarre oder Bongo und Querflöte erklingen und das Xylophon mit der Melodika und dem Akkordeon zwischen den Radiosendern und den individuellen Erfahrungswelten der Gemeindeglieder switchen. Wenn das gut gemacht, kreativ-liebevoll und mit geistlichem Blick einen Gottesdienst rahmt, wird er vielleicht einen ähnlichen Effekt haben, den Bachs Choräle und Luthers Tavernenlieder in ihrer Zeit hatten.
BTW, um nochmal auf Flügge einzugehen: Ich glaube, es braucht dann gar keine Liederbücher mehr, sondern digital vernetzte Liederdatenbanken und juristisch sowie pragmatisch geregelte flexible Anzeigemöglichkeiten. Egal ob das Monitore, Leinwände, Tablets oder Liedzettel sind.