If the thrill is gone, than it’s time to take it back

Der Rocktitan Meat Loaf war einer der bedeutendsten Musiker des letzten Jahrhunderts und hat seit den 1970er Jahren über 100 Millionen Tonträger seiner theatralisch opulenten Rockmusik verkauft. Als letzte Woche seine Todesnachricht durch die Nachrichten ging, habe ich bewusst nochmal das Best-of-Album durchgehört. Faszinierende Musik, die mit lauten Drums, elektrischen Gitarren und einer wuchtigen Stimme Emotionen hervorruft. Zwischen verschiedenen Emotionen kann man sich zu dieser Musik in Extase tanzen und auf angenehme Weise abreagieren. Denn bei Meat Loaf kann man (zumindest ich) nicht ruhig sitzen bleiben.

Als verspätete Homage an den Rocksänger Meat Loaf († 20.1.2022) und musiktherapeutische Analyse meiner Lebens-Situation habe ich mich intensiver mit dem Titel „Everything louder than everything else“ (Album: Bat out of Hell 2, 1993) beschäftigt. Ich empfehle, es beim Weiterlesen im Hintergrund laufen zu lassen.

Es ist ein Lied, das nicht nur musikalisch aktiviert, sondern auch inhaltlich spannende Akzente für ein selbstbestimmtes Leben in einer oft monotonen Welt setzt. Ein wenig wie Julia Engelmann (One day, baby) für Rock’n’Roller…
Meat Loaf (bzw der Produzent Jim Steinmann, der für ihn den Song geschrieben hat) tritt in den acht Minuten Power-Rock in einen Diskurs zwischen Effektivität und Lebenslust. Ich werde mir anhand der Textzeilen die Frage stellen, wie ich in meinen Vierzigern (Meat Loaf war bei der Aufnahme 46) meinen Platz zwischen der unbeschwerten Jugend und dem weisen Alter finde.

Wasted Youth!

Mit dem vorgeschalteten Sprechchor „Wasted Youth“, der später noch öfters ertönt, greift Meat Loaf die vielgeäußerte Kritik der etablierten Gesellschaft an jungen Menschen auf, sie würden ihre Jugend verschwenden mit Partys, Festivals oder anderen unproduktiven Dingen. Ich mag es nicht, den negativ konnotierten Begriff der Ankläger zu verwenden, würde lieber von „zwangloser Jugend“ reden, was auch später besser passt als von etwas verschwendetem zu sprechen. Gleichwohl ist es für die dramaturgische Spannung des Liedes wichtig, gleich zu Beginn die anklagenden Stimmen der gesellschaftlichen Vernunft wahrzunehmen gegen die der Rocksong rebelliert.

I know that I will never be politically correct
And I don’t give a damn about my lack of ettiquette
As far as I’m concerned the world could still be flat
And if the thrill is gone then it’s time to take it back

In unserer Gesellschaft wollen wir es oft allen recht machen, nicht anecken, achten auf Etiquette und politische Korrektheit. So sehr ich diesen Anspruch der inklusiven und nicht diskriminierenden Kommunikation im Umgang mit Minderheiten mag, wird daraus manchmal ein lähmendes Korsett, das Kreativität und Leidenschaft ausbremst. Wo haben wir die Leidenschaft verloren, weil wir zu vielen Regeln gefolgt sind?

Who am I? Why am I here?
Forget the questions someone get me another beer
What’s the meaning of life? What’s the meaning of it all?
You gotta learn to dance before you learn to crawl.

Gerade als Theologe beschäftige ich mich oft mit den großen Fragen. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Warum sind Dinge wie sie sind oder wie könnte es anders sein? Diese Fragen haben ihren Wert, aber manchmal muss man einfach mal ein Bier zusammen trinken. Ich teile die Erfahrung, dass man nach einem Glas Bier (oder Wein etc) mitunter offener redet und die wirklich wichtigen Themen auf den Tisch kommen. Wichtig ist also nicht der Pegel, sondern ab und zu entspannt das Leben zu genießen, offen zu reden und zu Tanzen. Tanzen lernen, bevor man elanlos herumkrabbelt, um es allen recht zu machen.

So sign up, all you raw recruits
Throw away those designer suits
You got your weapons cocked, your targets in your sights
There’s a party raging, somewhere in the world
You gotta serve your country, gotta service your girl
You’re all enlisted in the army of the night

Jedes Jahr starten junge Berufseinsteiger voller Elan ins Leben und versauern als Anzugträger in sterilen Büros ohne wirklich zu leben. Irgendwas ist immer los, manchmal bringt man sich gesellschaftlich ein, manchmal kümmert man sich um Partnerschaft oder Familie und manchmal gehört uns die Nacht, wenn wir den inneren Rockstar wach halten. Rollen prägen uns, und wir müssen entscheiden, was unseren Charakter langfristig prägen darf!

And I ain’t in it for the power
And I ain’t in it for my health
I ain’t in it for the glory of anything at all
And I sure ain’t in it for the wealth
But I’m in it til‘ it’s over and I just can’t stop
If you want to get it done, you have to do it yourself

Jetzt wird es doch wieder philosophisch: Warum leben wir eigentlich? Ich bin nicht hier, um Macht zu haben, um lediglich gesund zu bleiben, um irgendeinem System zu huldigen oder reich zu werden, sondern ich koste jeden Moment meines Lebens aus, singt er. Warte nicht auf andere, sondern mach, was für dich dran ist.
Ich würde gerne ergänzen, dass man in sozialen Systemen nicht nur für sich selbst Verantwortung trägt. Aber wenn dieser Gedanke zu stark wird, höre ich: Du musst mit dir selbst leben können – bis zum Schluss. Also sorge dafür, dass bei aller Fürsorge deine Bedürfnisse nicht zu kurz kommen!

And I like my music like I like my life:
Everything louder than everything else

Damit sind wir bei der ersten Kernbotschaft angekommen, die über 30x wiederholt werden wird. Was ich tue, sage, denke, lebe soll lauter sein als das, was mir von außen entgegenschreit, mich klein halten oder kompatibel machen will. Der laute Rocksong setzt perfekt um, was Meat Loaf singt, schreit, fühlt. Ich möchte gehört werden und sein dürfen, wie ich bin! Kontrastiert wird dieser Ruf im Lied immer wieder durch die Kritik der „Wasted youth!“ gegen die er beharrlich ansingt.

They got a file on me that’s a mile long
And they say that they’ve got all of the proof
That I’m just another case of arrested development
I’m just another wasted youth

Wie in einer Polizeiakte haben „sie“ eine kilometerlange Beweisliste: entwicklungsgestört, Jugend verschwendet. Nicht büffeln für das perfekte Abi, den lückenlosen Lebenslauf oder das zuträglichere Praktikum, sondern ein Road-Trip oder Festival-Sommer? Einige nennen das „Vergeudete Jugend“ andere genau das richtige, solange man jung ist?…
Was zählt im Leben wirklich und von wem lässt du dir sagen, wie du leben sollst?

They say that I’m in need of some radical discipline
They say I gotta face the truth
That I’m just another case of arrested development
I’m just another wasted youth

Zugegeben, manchmal tut auch etwas Disziplin gut! Eine angefangene Ausbildung abschließen, auch wenn es nervig wird. Zu einer Beziehung stehen, auch wenn das Arbeit bedeutet. Sich auf einen festen Job einlassen statt von Tag zu Tag zu leben, hat etwas für sich. Aber es hat auch seine Grenzen, immer nur für das höhere Ziel zu ackern statt zu leben.

They say I’m wild and I’m reckless
I should be acting my age
I’m an impressionable child In a tumultuous world
And they say I’m at a difficult stage

Das Partyleben mit 20 wird ja oft toleriert, aber wenn man mit 40 noch auf Studentenpartys geht und das Leben genießt, wird das Verständnis kleiner. Man müsste doch langsam erwachsen werden. Und ja, die Prioritäten haben sich bei mir in den letzten 20 Jahren verschoben. Aber wer definiert eigentlich, was in welchem Alter „normal“ ist? Klar, wenn ein Paar Kinder bekommt, hat man danach 20 Jahre lang ein vorgezeichnetes Leben mit frühem Morgen, Urlaub in den Schulferien und Ausflügen am Wochenende. Lange Kneipenabende, wilde Tanzpartys oder Exzesse passen da nur bedingt. Man darf auch erwachsen werden. Aber wenn man mit 42 keine Kinder hat? Soll man dann leben als hätte man welche, nur weil man älter ist? Oder muss man dann mit den jungen Wilden feiern gehen (falls die trotz Bolognaprozess noch Zeit zum Feiern finden) und zumindest mental jung bleiben? Manchmal habe ich das Gefühl, in einem „komplizierten Alter“ zu sein…

But it seems to me to the contrary
Of all the crap they’re gonna put on the page
That a wasted youth is better by far
Then a wise and productive old age

Auf der anderen Seite schreit mir Meat Loaf sein Credo entgegen. Statt auf den Bericht zu schauen, was alles nicht zu passen scheint, ist in Anlehnung an den biblischen Prediger eine „zwanglose Jugend“ viel mehr wert als ein weises und produktives Alter. Produktiv sein kann ich gut, weise Gedanken machen mich aus, aber schaffe ich es, mir dabei die zwanglose Jugend zu erhalten? Ich mag den schwarz-weiß-Kontrast an der Stelle nicht, eins gegen das andere auszuspielen.
Vielleicht kann man es so sehen: Manchmal muss man vernachlässigte Positionen besonders überbetonen, um sie gleichwertig werden zu lassen. Und je reifer wir werden desto mehr verdrängen wir oft die Lebensfreude. So kann dieses Mantra uns daran erinnern, in aller produktiven Altersweisheit nicht die scheinbar vergeudete Zwanglosigkeit eines unverplanten Lebens zu vergessen. Sie ist in der zweiten Lebenshälfte sicherlich nicht alles, was zählt, aber ich möchte sie mir gerne erhalten. Vielleicht als „wise and productive wasted time“?

If you want my views of history
Then there’s something you should know
The three men I admire most are Curly, Larry, Moe

Wenn man dich fragt, wer die bedeutendsten Menschen waren, wen würdest du nennen? Vielleicht Jesus oder berühmte Theologen, Naturwissenschaftler, Vorbilder, Dichter und Denker, Erfinder und Lenker. Oder eben drei Komiker (The Three Stooges waren Slapstick-Comideans, in den USA ähnlich berühmt wie Laurel und Hardy), die die Welt zum Lachen bringen.
Auch ich finde Loriot, Heinz Ehrhardt oder Monty Python bewundernswert. Wir sollten uns mit Menschen umgeben, die uns zum Lachen bringen.

Don’t worry about the future. Sooner or later it’s the past

Zum Ende des Textkorpus wird es nochmal biblisch: Macht euch keine Sorgen um die Zukunft, sondern vertraut und genießt das Leben. Amen! Wer sich nur um die Zukunft kümmert wird irgendwann merken, dass sie Vergangenheit geworden ist, ohne dass man die Gegenwart gelebt hat.

if they say the thrill is gone then it’s time to take it back …

Hier wäre ein typischer Radiosong (mit knapp 5min schon mit Überlänge) zu Ende. Meat Loaf aber nicht. Er wiederholt in leichter Abwandlung den Aufruf an die junge Elite, sich nicht vom System vereinnamen zu lassen, weil es nicht auf Geld, Macht und reines Überleben ankommt. Kämpfe für das, was dir wertvoll ist! Und lebe so laut, dass andere es mitbekommen, dass dein Leben andere dazu bringen kann, aus ihrem Alltagstrott rauszukommen und ihre eigene Leidenschaft wiederzuentdecken. Sei lauter als der Lärm dieser Welt. Sei länger als Statistiken für den perfekten Song ausrechnen und sei ein Unikat statt Massenware.

Ich will ein lautes Unikat sein und mein Leben so leben, dass es andere zum Nachdenken, zum Genießen und zum Lachen bringt. Ich freue mich, wenn das bereits gelingt und wo ich immer wieder mal den Fokus verliere freue ich mich, wenn mich gute Freunde oder Lieder wie dieses lautstark daran erinnern, mal wieder wild zu tanzen und dem inneren Rock’n’Roll treu zu bleiben!


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