In den letzten Wochen habe ich die Serie „Perfekt verpasst“ auf Amazon Prime gesehen. Eine lustige Kleinstadt-Comedy über zwei Singles, die sich zufällig niemals treffen, obwohl sie ständig im gleichen Umfeld unterwegs sind. Das ist witzig durchdacht, bildtechnisch schön gestaltet und an einem Abend/Wochenende leicht rezipierbar. Marburg ist dabei Ort der Handung und gleichzeitig auch Stilmittel, weil viele der Begebenheiten eben gut in die spezifischen Probleme der verwinkelten Universitätsstadt an der Lahn passen. Marburg ist meine alte Heimat und so war es schön, alte Orte im Film zu sehen, an denen ich gelebt habe.
Außerdem habe ich das Hörbuch zu Arne Strobels „Fake – Wer soll dir jetzt noch glauben?“ gehört. Ein Psycho-Thriller, in dem ein Mann durch ein Fakevideo beschuldigt wird und seine Unschuld nicht beweisen kann, weil die Polizei dem Video mehr glaubt als der Unschuldsbeteuerung. Der Roman spielt in Erfurt und Weimar, also meiner aktuellen Heimat. Trotzdem hatte ich viel weniger nostalgische Gefühle. Irgendwie kamen mir Story und Setting unzusammenhängend vor. Der Mordfall hatte keinerlei Bezug zu Erfurt, auch wenn ich genau weiß, welche Buchhandlung am Anger und welche große Steakhauskette gemeint sind. Aber es hätte eben auch in Oberhausen oder Münster spielen können. Natürlich habe ich mich gefreut, immer wieder etwas wiederzuerkennen. Aber ich habe mich nicht abgeholt gefühlt, obwohl die Story mir durchaus gefallen hat.
Kurz habe ich sogar mal überlegt, ob es ein hyperpersonalisierter Roman wäre, wie es Marc Uwe Kling in Qualityland als Idee vorstellt. Aufgrund einer Liste mit 20-30 Begriffen könnte man mit ein wenig KI-Technik jede Story auf die eigene Situation hin personalisieren: Wie soll der Protagonist heißen? An welchem Ort entspannt er? Wo geht er einkaufen? Was ist ein typisches Industriegebiet, was ist ein Sehnsuchtsort? Aber ich habe keinen Hinweis darauf gefunden, dass es „Fake“ auch als Münster- oder Oberhausen-Version geben würde. Außerdem war es keine KI-Lesung, sodass es unrentabel wäre, jede lokalisierte Variante von einem Menschen einlesen zu lassen. Doch in Zukunft kann ich mir vorstellen, dass fiktionae Texte stärker personalisiert werden (von Kinderbüchern kenne ich das schon). Doch das Fake-Beispiel zeigt mir, dass es nicht reicht, einfach nur lokale Begriffe zu nutzen, sondern dass die Story zum Setting passen muss.
Vielleicht hat es auch etwas mit dem Genre zu tun. Mit dem Marburger Stadtfest, dem Wochenmarkt und einem pannenbeladenen Flirtszenario verbinde ich mich lieber als mit einem Mordfall, brutalen Mishandungsszenen und einer stümperhaften Polizeiarbeit. Ich will gar nicht, dass das in meiner Nachbarschaft sein könnte, sondern sowas soll weit weg sein. Auch ein Buch über ein Killervirus soll lieber weit weg spielen, aber die Serie über ein gelungenes Musikfestival darf gerne in meiner emotionalen Nähe stattfinden.
Es gibt also nach wie vor das Karl-May-Phänomen, dass man über Orte schreiben kann, ohne sie wirklich zu kennen. Aber ob Lesende es an sich ranlassen, ist eine komplexere Frage…