Oktober 2021. Die Medien überschlagen sich. Über 111 Millionen Menschen haben die neue Netflix-Hype Serie geschaut. Wow!
November 2021. Die Medien überschlagen sich. Pädagogen laufen Sturm gegen die neue Serie, weil Schüler Teile des Spielsystems in ihren Pausenspielen adaptieren. Warnung!
Ich kann den Hype auf beiden Seiten nicht ganz verstehen. Mir ging es mit der Serie wie mit den meisten Tarantino-Filmen, „Altered Carbon“ oder „3%“. Filmisch zu gut gemacht, um sie als Medienmensch nicht zu kennen, aber soviel unsinnige Gewaltdarstellung, dass ich weiß, sie tut mir nicht gut. Dennoch habe ich „Squid Game“ in kurzer Zeit durchgeschaut und bin begeistert. In den ersten Teilen wird bewegend gezeigt, wie Menschen in Armut und Abhängigkeit leben, welche Probleme und Hoffnungslosigkeit daraus erwächst und wie leicht man bereit ist, für Geld alles zu tun. Ein Phänomen, was nicht nur im koreanischen Film, sondern auch in unserem Alltag oft zu beobachten ist. Wir haben zu wenig Geld für das, was wir dringend barauchen. Und wenn sogar Familien daran zerbrechen oder kranke Menschen nicht versorgt werden können, ist es umso verlockender, dem Glücksspiel zu verfallen, auch wenn man etwas riskieren muss.
[Achtung Spoiler ahead!]
Dass ein Großteil der Teilnehmer, die freiwillig an dem „Tintenfisch-Spiel“ teilnehmen protestiert, als sie erfahren, dass Ausscheiden mit dem Leben bezahlt wird, ist ein letztes Aufbäumen der Moral, aber die meisten kommen schon nach kurzer Zeit zurück, weil die Hoffnungslosigkeit ihnen keine Wahl lässt, als selbst ihr Leben zu riskieren. Und immerhin ist eine unüberschaubar große Summe Geld im Jackpot, die mit jedem Spiel zunimmt. Und sechs Kinderspiele zu überstehen, kann doch nicht so schwer sein…
Im übrigen zeigt die Serie sehr schön den Kontrast zwischen harmlosen Kinderspielen (Murmeln, Tauziehen, …) und mörderischen Voyeurismus-Phantasien gelangweilter Superreicher, denen normale Pferdewetten nicht mehr ausreichen. Letztlich sind also nicht nur die Mittellosen, sondern auch die Gutbetuchten in der Serie verzweifelt. Und das Spiel bringt sie zusammen.
Ab der fünften Folge kommt noch eine philosophisch-religiöse Komponente ins Spiel. Die Teilnehmenden reden im Angesicht des drohenden Todes über Ewigkeitsfragen. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Was macht das Leben aus? Was könnte man mit dem Gewinn Gutes tun? Wofür lohnt es sich zu leben? Und letztlich diskutiert die Serie in all ihrer Grausamkeit immer wieder die ethische Frage: Was ist erlaubt, wenn das eigene Leben zur Disposition steht? Darf ich schummeln, lügen oder die Naivität anderer ausnutzen? Kann ich mit der Schuld leben, wenn mein Verhalten andere das Leben gekostet hat? Bin ich bereit „die andere Wange hinzuhalten“ statt meine eigene Haut zu retten? Gerade als Christen sollten wir nicht zu schnell urteilen, sondern die gezeigten Dilemma-Situationen ernst nehmen. Wie würde ich entscheiden? Wie weit würde ich gehen? Wo beeinträchtigt mein täglicher Lebenswandel das Leben anderer Menschen im globalen Wirtschaftskreislauf schon jetzt?
In den späteren Folgen wird ein Christ gezeigt, der im Angesicht des Todes anfängt zu beten und die ewige Verdammnis zu predigen. Schade, wenn das der Eindruck ist, den der Regisseur Hwang Dong-hyuk von christlicher Lebensweise hat. Zumal in einem Land wie Südkorea, das sehr aktive Mega-Churches und starke Missionsbewegungen verzeichnet. Aber oft sind Christen wohl nicht die selbstlos liebenden, sondern die verbissen verdammenden und am Ende doch ängstlich für sich kämpfenden Menschen, wenn es hart auf hart kommt. Ich bin froh, dass ich noch nie herausfinden musste, wie ich im Angesicht des Todes reagieren würde, aber in der Theorie ist meine christliche Hoffnung stärker als die Angst vor dem Tod. Das Gedankenspiel fordert mich heraus!
Neben den schönen Bildern, der immersiven Stimmung und den spannden ethischen Fragen bleibt die Serie freilich eine radikal gewaltverherrlichende! Zum einen physisch mit direkten Kopfschüssen, spritzendem Blut, freiliegenden Gedärmen und Bildern, die einfach nicht sein müssen. Zum anderen aber auch mit dem Bandenethos, des Wir gegen Die, des Mobbing und des Verachtens der scheinbar unterlegenen. Zwar gewinnt am Ende der Serie einer, der sich für die Schwachen eingesetzt hat und die Bösewichte müssen die Folgen ihrer Arroganz tragen, aber was bei unbedarften Zuschauern hängenbleibt ist mitunter das egozentrische Denken, dass alles erlaubt ist, solange es mich aufwertet und andere abwertet. Nicht ohne Grund hat die Serie keine FSK-Freigabe fürMenschen unter 16 Jahren. Meiner Ansicht nach wäre sogar FSK18 gerechtfertigt, aber ungefestigte Gemüter sollten diese Serie tatsächlich nicht unbeaufsichtigt sehen. Und das ist wohl ein Kernproblem: Bei Netflix sehen Jugendliche meist ungefiltert, was sie wollen und wenn die Medien proklamieren, dass diese Serie gerade angesagt ist, eben auch das.
Schon früher haben junge Menschen sich Conan, Chucky, Saw oder Halloween angesehen. Und eine Warnung macht Erwachsenenfilme erst richtig interessant. Daher finde ich die aktuellen Aufschreie nur mäßig hilfreich. Gut hingegen wäre, wenn Eltern konsequent mit ihrem Nachwuchs über deren Medienkonsum im Gespräch wären, um zu begleiten, was diese sehen oder wie sie das gesehene verarbeiten. Auch Lehrer, Jugendarbeiter und Freunde sollten positive Gesprächspartner sein statt diese Serie zu verteufeln, nachdem sie ohnehin schon die meisten gesehen haben. Und wenn auf Schulhöfen Kinder mit Murmeln spielen, ist das etwas Gutes. Wenn sie Schwache in ihr Team integrieren, um gemeinsam weiter zu kommen und ein Risiko in Kauf nehmen, um ihre kranken Eltern zu pflegen, ist das hoch anzurechnen. Aber wenn sie sich beim Spiel gegenseitig erniedrigen, körperlich oder psychisch verletzen, dann brauchen sie pädagogische Unterstützung.
Vielleicht sollten also christliche Jugendgruppen positiv besetzte Versionen des Squid Games anbieten, bei dem klassische Kinderspiele kompetitiv gegeneinander ausgetragen werden, aber am Ende alle sich freudig in den Armen liegen und miteinander feiern, was man zusammen erlebt hat. Oder ein Preisgeld von externen Sponsoringpartnern wird am Ende an die soziale Einrichtung gespendet, die der Gewinner bestimmen darf. Es gibt reichlich Möglichkeiten, einen Medienhype positiv aufzugreifen und das, was die Serie anklingen lässt, nachschwingen zu lassen. Statt Warnungen oder Verbote auszusprechen rate ich also: Lasst uns spielen!