(Ursprünglich erschienen in TEC 1/2014)
Wir schreiben das Jahr 2050. Nach den globalen Bildungsstandards werden Grundschüler weltweit einheitlich bereits ab 4 Jahren in intuitiver Programmierung, Web-Design und den modularen Systemen der sogenannten „Digi-Pulte“ geschult. Natürlich zweisprachig auf Englisch und Chinesisch. In den kulturell hochstehenden Provinzen wird in weiterführenden Klassen zusätzlich zum üblichen Lernstoff immer noch ein historisches Themengebiet wie „Schreiben mit der Hand“, „bildschirmlose Bücher“ oder „akustische Musikinstrumente“ gelehrt, um zu einem besseren Verständnis zwischen den Generation beizutragen. Für die älteren Mitbürger, die vor der digitalen Wende aufgewachsen sind, waren diese aufwändigen Übungen damals normaler Alltag. So demonstriert die 75 jährige Lehrerin mit faszinierender Konzentration, wie sie in einem Bücher-Raum völlig ohne die Hilfe eines Digi-Pultes eine geforderte Information finden kann. Zwar braucht sie für die Aufgabe, die ihre Schüler am Digi-Pult in wenigen Sekunden erledigt haben, fast 10 min, aber begeistert von der historischen Aufführung sind die Kinder dennoch und verlinken die interaktive Lehreinheit mit ihrem persönlichen Wissensspeicher.
Die Schüler scannen die archaischen Exponate wie papierbasierte Terminverwaltung und stromlose Bildergalerien und vernetzen die persönlich gelernten Informationen mit denen der zentralen Wissensdatenbank. So können sie bei späteren Fragestellungen zu diesen Themen auf beides zugreifen. Die Lehrerin legt Wert darauf, dass die Schüler nicht nur die zentrale Datenbank für semantische Suchanfragen nutzen, sondern eigene Lernerfahrungen aus ihrem persönlichen und selbst verwalteten Wissensspeicher damit verknüpfen. Auch wenn die Lehrerin aufgrund der Persönlichkeitsrechte diese Datenbank nicht einsehen kann, freut sie sich, wenn regelmäßig das Volumen der Datenbasis steigt und für die Heranwachsenden somit individuelle Erfahrungen als Gegenpol zum allgemeinen Wissen bereit stehen.
Aus dem zentralen Info-Pool und den persönlichen Informationsspeichern seiner Eltern und Großeltern hat ein Schüler ein Referat vorbereitet, mit dem er seiner Klasse Informationen über frühe soziale Netzwerke weitergibt. Er redet von Freundschaftsbüchern, in denen man mit Stiften seine Hobbies und Vorlieben eintrug, von Papierlisten mit Kontaktinformationen und der langen Suche nach Telefonnummern oder Adressen, wenn ein Kontakt umgezogen war. Seine Mutter – so sagt er – habe seinen Vater dann aber in einer dieser ersten Internetportale kennen gelernt. „Facebook?“ fragt ein Mitschüler. „Nein, noch älter und auf ein Land beschränkt.“ Später seien sie dann aber zu Facebook gewechselt, weil sie nach dem Umzug vieler Freunde auch international in Kontakt bleiben wollten. Und da sei Facebook dann die erste Möglichkeit gewesen, trotz räumlicher Entfernung eine emotionale Nähe zu spüren. Dabei waren es anfangs lediglich Texte, Fotos und Videos, die man austauschen konnte. Und doch fühlte man die Verbundenheit, konnte mit alten Kontakten in Verbindung bleiben und über gemeinsame Schnittmengen neue Kontakte finden. „Das ist doch klar, das macht doch jeder schon im Kindergarten!“ wirft ein anderer ein. Aber das sei wohl erst eine recht junge Entwicklung fährt der Referatsschüler fort. Früher sei noch eine Altersbeschränkung eingebaut gewesen, um Kinder unter 13 zu schützen, weil sie in der Schule noch keine vollständige Medienkompetenzschulung gehabt hätten. Und das neue Facebook sei auch vielen Erwachsenen nicht ganz geheuer gewesen, weil sie wohl viel zu viel Zeit gebraucht hätten, um dort an Informationen zu kommen und ihre reguläre Arbeit vernachlässigt hätten.
Der Schüler stellt dar, wie seine Großeltern sich damals gestritten hatten, ob die Vorteile der freien Meinungsäußerung wichtig wären oder die damaligen Sicherheitsbedenken einen Boykott rechtfertigten. Oma hatte wohl immer schon gerne viel über sich erzählt und so eine Art persönliche Ergänzungsdatenbank angelegt und Opa hatte sie dafür getadelt, weil es noch keinerlei Datenschutz für die sensiblen Daten ihrer eigenen Erfahrungen gegeben hatte. Regierungen, Firmen und Hacker konnten ungehindert alle Aktionen mitlesen und auswerten. Erst die persönlichen Serverkonzepte aufgrund der frühen Diaspora-Netzwerke mit dezentraler Datenbasis hätten es möglich gemacht, persönliche Daten vor dem Zugriff von außen zu schützen und damit letztlich zum Durchbruch der Vernetzten Anwendungen bei weiten Teilen der Gesellschaft beigetragen. Vorher seien meist die Betreiber aus finanziellen Interessen an den persönlichen Daten interessiert gewesen. „Da gab es auch noch keine allgemeine Netzsteuer, um die Infrastruktur ohne Werbung und Datenhandel zu finanzieren…“ wirft ein Naseweis ein. „Und es war ein langer Weg, bis alle Bürger eingesehen haben, warum das sinnvoll ist.“ kontert der Referent. Aber laut seiner Eltern wäre erst durch diese globale, staats- und firmenunabhängige Infrastruktur ein wirklich freies Internet möglich gewesen. Das sei dann das Ende von Facebook und den damit verbundenen großen Firmen gewesen, die ihr Geld mit den Daten der Nutzer verdienten und innerhalb weniger Jahre habe sich als Nachfolger des freien Wikipedia-Ansatzes die zentrale Wissensdatenbank gebildet. Damals war wohl der Werbeslogan: „Globales Wissen zentral speichern, persönliche Erfahrung selbst zuordnen.“ Und so sei das Konzept, dass persönliche Informationen, Erfahrungen und Deutungen in eigenen Web-Servern vom Nutzer selbst verwaltet werden letztlich nur durch die Datenskandale der jungen Netzwerke aufgekommen. „Also muss man Facebook danken, dass sie damals die Daten unserer Großeltern verkauft und durch dubiose Spiele Süchte und Finanzprobleme ausgelöst haben?“ wird er ein letztes Mal unterbrochen und kann dem Einwurf prinzipiell zustimmen. Natürlich wäre das damals nicht in Ordnung gewesen, aber nur durch den globalen Skandal, dass Firmen und sogar der Staat die Daten der Nutzer ausspioniert und missbraucht haben, sei das Bewusstsein für den Wert persönlicher Information entstanden, was heute jedem Kind beigebracht wird. Allerdings seien die Schritte vom Skandal zur Eigenständigkeit kein leichter Weg gewesen. Viel komfortabler sei es gewesen, einem Netzwerk naiv zu vertrauen als selber über die Art der Datenspeicherung Bescheid zu wissen. „Und ein eigener Webserver war damals immerhin so etwas besonderes, wie ein privates Flugmobil heute.“ ergänzt die Lehrerin. Und sie muss es wissen. Schließlich hatte sie damals die ersten statischen Internetseiten, den Wandel zu nutzerorientierten Web-2.0-Anwendungen, die Einführung der semantischen Suchfunktionen des Web3 und die Revolution hin zu persönlicher Datenspeicherung selber miterlebt. Welche Rolle sie im Kampf gegen die staatliche Kontrolle aller Netzdaten gespielt hatte, darüber möchte sie nicht reden. Aber sie schaut so geheimnisvoll, dass den Schülern klar ist, dass in ihrem privaten Erfahrungsspeicher sicher einige brisante Informationen lagern. Und wieder einmal sind sie froh, dass sich das kommerziell orientierte Internet der Jahrtausendwende in ein tatsächlich freies Informationsnetz mit zentraler Wissensdatenbank und dezentral gespeicherten Nutzerdatenbanken gewandelt hat. Gerne zahlen sie für diese Infrastruktur einen kleinen Beitrag und sind dafür sicher, ihre eigene Meinung auch online vernetzt mit den weltweiten Freunden teilen zu können, ohne dass sie dafür vom System gesperrt werden könnten.