Coverbild zu Marc-Uwe Kling: Views

Wie politisch kann ein Roman sein?

Meine Rezension zu Marc Uwe Kling: „Views“

„Sensibler Inhalt. Dieses Hörbuch enthält Inhalte, die manche Menschen als verstörend empfinden könnten!“ steht gut lesbar auf dem Cover. Und das ist nicht nur als Triggerwarnung gemeint, sondern setzt gleichzeitig Thema und Problemstellung des Thrillers, den Marc Uwe Kling als Weiterführung der Qualityland-Gedanken vorlegt. Diesmal nicht in eine fiktionale Zukunft projiziert und keine Comedy, sondern ernsthafte und verstörend ehrliche Gesellschaftskritik, die im realen Deutschland 2024/25 spielen könnte…

Etwas Schlimmes ist passiert. Wir alle haben das Video gesehen! SocialMedia verbreiten nicht nur Freude, Katzenvideos und Memes, sondern auch Hass, Propaganda und Grausamkeiten. Wo Journalistenethik etablierte TV Sender noch zu zurückhaltenden Bildern angehalten hat und regulierte Boulevardmedien zumindest verpixeln und entschärfen mussten, können Onlinenetzwerke ungefilterte Grausamkeiten senden. An jede Person, die es sehen möchte oder nicht schnell genug weiter geklickt hat.
Was macht das mit der Gesellschaft? Wo bilden wir uns ein Urteil aufgrund eines (reißerischen) Clips, ohne geprüft zu haben, was dahinter steht? Was darf unsere Meinung bilden? Unsere Ethik? Unsere Moral? Und wo setzen wir Grenzen, was wir sehen wollen, was wir teilen und öffentlich machen?

Im Buch geht es um eine Polizistin, die eine Entführung/Vergewaltigung/Mord aufklären soll. Anfangs hofft man noch das Beste, aber schon bald wird deutlich, dass der ursprüngliche Fall (grausam genug) gar nicht das Schlimmste ist, sondern der hasserfüllte Umgang der Gesellschaft zwischen Vorverurteilung, Lynch-Justiz und offener Revolte. Und die dramatische Zuspitzung scheint leider nicht aus der Luft gegriffen…

*Spoileralarm: ab hier nehme ich das Ende vorweg *

Wenn sich im letzten Drittel andeutet, dass das ursprüngliche Vergewaltigungsvideo vielleicht nur ein (gut gemachter) Fake war, kommt ein wenig Hoffnung auf. Aber die gesellschaftliche Stimmung ist mittlerweile so vergiftet, dass niemand mehr Fakten glaubt, die nicht die eigene Meinung stützen. Und Emotionen lassen sich nicht durch rationale Argumente einfangen. Final sind also mehrere tatsächliche Morde, Vergewaltigungen, Verleumdungen und gewaltsame Proteste die Folge einer nie geschehenen Gewalttat. Der Auslöser ist egal, das Ventil hat angestaute Agressionen freigesetzt. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Und wenn final herauskommt, dass das Video von einer KI erstellt wurde, die einfach nur programmiert war, möglichst viele Onlinewerbeeinnahmen zu generieren, wird klar, wie perfide Onlinemarketing, Automatisierung und scheinbare maschinelle „Intelligenz“ ineinander greifen können. Ein Entwickler hat sich durch einen Video-Erstellungsbot finanziell unabhängig gemacht und lebt von den Werbeeinnahmen vor (künstlich generierten) süßen Tiervideos. Aber schnell hat die KI errechnet, dass ein Skandalvideo und fingierte Reaktionen darauf die Einnahmen verfielfachen würden. Der gesamte mediale Hintergrund zum Skandal war also nur fingiert, die Trittbrettfahrer und Opfer waren Collateral Damage und der Auftraggeber schon seit Wochen durch einen Unfall gestorben (vermutlich wirklich ohne Fremdeinwirkung).

Das Problem auf das der Roman hinweist, ist also fehlgeleitete Technik, die Befehle abarbeitet und kreativ weiter optimiert, ohne gesellschaftliche Folgen einzubeziehen. Und das noch größere Problem sind Menschen, die mit ihrem Leben frustriert sind, die ihre Unzufriedenheit, ihren Neid und ihren Hass aber nicht therapeutisch verarbeiten, sondern populistisch laufen lassen. Hier zeigt der Roman auf, was viele Menschen tatsächlich erleben. Wenn die große Gesellschaft enttäuscht, sucht man sich eine kleine Gruppe, die Bestätigung und Zusammenhalt bietet. Und wenn man Politikversagen auf allen Ebenen beobachtet, nimmt man die Sache selbst in die Hand.
So falsch das auch ist, kann ich verstehen, dass Menschen in den östlichen Teilen Deutschlands sich oft nicht gesehen und gewertschätzt fühlen. Und bevor Fakevideos, TikTok-Propaganda und rechte Hetze uns entzweien, sollten wir dringend miteinander ins Gespräch kommen, Enttäuschungen aussprechen, Frust anerkennen und produktive Lösungen suchen, wie wir Hass und Gewalt echte Annahme, Integration, Wertschätzung und Zukunftshoffnung entgegensetzen können, um tatsächlich zu EINER Gesellschaft in einem GEMEINSAMEN Land zu werden.

Oder ist es dafür schon zu spät?


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