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Reale Virtualität

„Ist etwas real oder nur virtuell?“ fragen Menschen immer wieder. Oder sie stellen virtuelle Onlinetreffen als defizitär neben „reale“ Treffen, bei denen man sich „wirklich“ begegnet. Ich kann verstehen, was Menschen damit aussagen wollen, möchte aber eine Lanze dafür brechen, gleichberechtigt von „physischer und virtueller Realität“ zu sprechen, um nicht vorzuverurteilen, sondern je nach Kontext und Bedürfnisen verschiedene Realitätsebenen weise nutzen zu können.

Auslöser für diesen Artikel ist ein Podcast von Johannes Hartl zum Thema „Keine Angst – trotz Corona und Metaverse„. Ich möchte ausdrücklich erwähnen, dass ich den Vortrag großartig finde, weil er in besonnener Form gesellschaftliche Entwicklungen zur Aufmerksamkeitsökonomie darstellt und zur Eigenverantwortung bei der Nutzung digitaler Dienste aufruft. Also absolute Seh- bzw. Hörempfehlung. Aber auf dem Weg zu einer Hochachtung der physischen Begegnung greift Johannes Hartl zu einem üblichen Trick (oder ist es Unachtsamkeit?), dass er das körperliche als einzig ernsthafte Realität darstellt (etwa bei Minute 33). Und gerade, weil ich ihm in vielem anderen zustimmen kann, möchte ich an der Stelle sensibilisieren, warum wir einen offeneren Realitätsbegriff brauchen.

Was ist real? Natürlich ist Materielles real. Schau dir deine Hand an, die Finger, die du bewegen kannst sind real. Aber auch das Buch auf dem Schreibtisch ist real. Das Bild an der Wand ist real.
Aber was ist mit dem Buch, das du als ebook oder Hörbuch-Download liest? Es ist nicht materiell, aber der inhalt prägt dich genauso real. Das digitale Urlaubsfoto erinnert dich ganz real an den schönen Familienurlaub, auch wenn es nicht physisch an der Wand hängt, sondern dein Smartphone schmückt.

Und jetzt denk mal an deine Großmutter (oder jemanden, der dir wichtig war, aber nicht mehr lebt). Diese Person ist nicht mehr körperlich vorhanden, aber hört sie damit auf, real zu sein?
Als Erinnerung prägt sie weiterhin dein Leben. Erinnerungen bleiben und beim Austausch über vergangene Zeiten spüren wir emotionale Verbundenheit, wenn wir über gemeinsame Familienereignisse oder Jugendfreunde reden. Und das überlieferte Gulaschrezept meiner Oma beeinflusst bis heute, wie ich koche und somit auch das physische Leben von mir und meinen Freunden. So bleiben immaterielle Dinge in unserem Kopf, Fotos, Videos oder aufgeschriebenen Texten durchaus real.

Oder ganz konkret: Denk an einen roten Apfel. Stell dir vor, wie er ausschaut, wie er riecht, dreh ihn in deinem Kopf und betrachte ihn von allen Seiten. Beiß rein und stell dir vor, wie er schmeckt. Jetzt hast du in deinem Kopf eine recht genaue Vorstellung von deinem virtuellen Apfel, ohne dass er materiell existent wäre. Wenn du mir dann von deinem Apfel erzählst (oder es aufschreibst), kann ich mir deinen Apfel auch vorstellen. Vielleicht nicht exakt so, wie in deinem Kopf, aber ich bekomme eine Ahnung davon. Und wenn ich dir von meinem Apfel erzähle und jemand drittes noch von einer Orange, Birne, Banane, können wir uns gegenseitig austauschen und einen wunderbaren virtuellen Obstsalat daraus machen. Und wer künstlerisch begabt ist, kann diesen vielleicht sogar malen und durch dieses Bild anderen Lust auf Obstsalat machen. Natürlich kann der virtuelle Obstsalat nicht satt machen, aber er verändert unsere Realität, weil wir vielleicht Lust auf Obstsalat bekommen und uns gesund ernähren. Und wer sich in einem Onlineforum über Obstsalat austauscht, prägt damit mitunter auch die physische Realität von Menschen, die man nie getroffen hat und nicht persönlich kennt.

Wir Menschen sind Wesen mit Körper, Geist und Seele. Wenn ich also Luft, Wasser, Nahrung aufnehme, dann versorge ich damit den physischen Teil meiner Existenz. Genauso sollte ich meinen intellekt mit guten, wahren und schönen Informationen, Geschichten und Ideen füttern und meine spirituelle Seite mit geistlichen Begegnungen bereichern. Die geistige und geistliche Ebene sind dabei genauso realer Bestandteil unseres Seins wie die körperliche, nur eben nicht materiell. Gottesbegegnungen, Intellektuelle und Herzensbegegnungen sind mitunter sogar relevanter als nur den Leib am Leben zu halten. Und ohne virtuelle Telekommunikation würdet ihr diesen Artikel auch gar nicht lesen, weil wir uns vermutlich gerade nicht physisch begegnen. Wenn wir also über die Unterschiede zwischen den Realitätsformen reden, sollten wir diese drei Ebenen in ihrer jeweiligen Funktion und Begrenzung ernst nehmen und nicht vorschnell eine der drei Realitäten zur alleinigen Norm erheben. Und dann lasst uns gemeinsam an einer Zukunft arbeiten in der wir möglichst frei und selbstbestimmt miteinander Leben teilen und ganzheitlich kommunizieren.

BTW: Wer sich für das Thema aus wissenschaftlicher Sicht interessiert, findet in meiner Diss (von 2013) theologische und kommunikationstheoretische Grundlagen zur Frage nach realer Virtualität: “ Kommunikation des Evangeliums für die Web-2.0-Generation : virtuelle Realität als reale Virtualität“

Filmtipp: Jumanji – Willkommen im Dschungel

Zwischen den Jahren war ich mit Freunden im Kino und positiv überrascht von einem eigentlich recht platten Fantasy-Sequal. Wer erinnert sich noch an Jumanji aus dem Jahr 1995? Zwei Kinder spielen ein Spiel, das auf magische Weise selber steuert, Menschen einsaugt oder Dschungeltiere auswirft und droht die ganze Stadt zu verwüsten, wenn es nicht zu Ende gespielt wird. Technisch für die damalige Zeit gut gemacht, aber inhaltlich doch recht willkührlich und kein besonderer Tiefgang. Deshalb hab ich mich mit dem Film auch nie näher auseinandergesetzt. Was der aktuelle Film bei mir ausgelöst hat, möchte ich hier kurz skizzieren:

  1. Ich bin mir bewust, dass es kein philosophischer ScienceFiction-Stoff ist, der herleiten möchte, wie der Realitätswechsel zwischen der Filmrealität und der Spielwelt geschieht, daher kann ich mich darauf einlassen, dass es nunmal so ist. In gewisser Weise ist es ein Gedankenexperiment, eine gemeinsame Fiktion oder im ursprünglichen Wortsinne eine „kollektive Virtualität“. Wir befinden uns die meiste Zeit des Filmes also in einem virtuellen Dschungel, der funktioniert wie ein Computerspiel.
  2. Diese Spielwelt erzeugt bei mir schonmal Retrogefühle (vgl. klassische Adventure-Games wie Indiana Jones, Maniac Mansion etc). Es gibt NPC, die wichtige Infos geben, zu mehr Interaktion aber nicht in der Lage sind. Die Charaktäre haben individuelle Fähigkeiten und können nur als Gruppe das Spiel gewinnen. Immer wenn eine Aufgabe gemeistert wurde, wird der Weg ins nähste Level freigeschaltet. Auch hier: keine wissenschaftliche Detailtreue, aber viele Revivalmomente, wie das erlernen der Moves und der „Steuerung“, die zumindest zum Schmunzeln bringen.
  3. Das Setting ist spannend gewählt, denn diesmal spielen das Spiel vier Teenager, die im Alltag niemals gemeinsam agieren würden. So müssen sie im Spiel auch erst lernen, sich gegenseitig ernst zu nehmen und nicht gegeneinander sondern gemeinsam zu spielen. Ich mag ja kollaborative Spiele und wünsche mir, dass immer mehr Menschen verstehen, dass man auch im Leben miteinander weiterkommt als mit egozentrischen Alleingängen. Auch wenn das am Anfang etwas Überwindung kostet.
  4. Die Spieler müssen sich mit ihren Stärken und Schwächen auseinandersetzen. Zum einen mit denen, die sie im Alltag haben (oder zu haben meinen), zum anderen mit denen, die ihre Charaktäre im Spiel mitbringen. Und hier wird es richtig gut, weil sie Stück für Stück herausfinden, dass die vermeintlichen Looser bestimmte Dinge können, die die sonstigen Alphatiere eben nicht können. Hervorgerufen wird diese Erkenntnis dadurch, dass die Charaktäre die natürlichen Ausgangspunkte (Körpergröße, Muskelkraft, Aussehen, Wissen, …) quasi umkehren. Der kräftige Footballspieler muss also anerkennen, dass der schmächtige Nerd auf einmal Expeditionsleiter ist und dieser sich mit seiner Leiterrolle erst identifizieren. Das Selfigirl ist auf einmal Kartograph und das schüchterne Mauerblümchen Kampfkunst-Vamp. Hier wird die Frage aufgeworfen, was einen Menschen ausmacht. Wer bin ich? Was steckt in mir? Ganz unabhängig, ob ich in einem Zauberspiel lande oder nur das echte Leben spiele…
  5. Gleichzietig bringen die Spieler aber auch ihre natürlichen Fähigkeiten mit und lernen im Laufe des Films, dass auch ohne die Superkräfte des Spielcharakters die anderen Personen durchaus was auf dem Kasten haben (das sie teilweise selber erst entdecken müssen). Das ist ganz wichtig, damit der Transfereffekt am Ende funktioniert und wird durch den gesamten Verlauf stringent vorangetrieben.
  6. Schön ist dabei, dass der pädagogische Lerneffekt nicht im Zentrum steht, sondern sich in eine lockere, kurzweilige und witzige Handlungskette einfügt. Natürlich könnte man als Gamer an dieser Stelle etwas mehr Tiefe erwarten, aber gerade die offenkundig platten Rätsel sind es ja, die solchen Spielen vor 30 Jahren ihren Charme gegeben haben. Also überzeugt auch hier die Oberflächlichkeit.
  7. Am Ende gewinnen die Superhelden natürlich knapp das Spiel in einem packenden Endkampf und kommen zurück in ihre bekannte Realität. Auf einmal sind die Superkräfte verflogen, das Aussehen ist wieder normal, aber zurück bleibt ein gestärktes Selbstbewusstsein und die Erkenntnis, eigentlich ein Held zu sein und einiges drauf zu haben. Und dadurch (ganz im Sinne der klassischen Heldenreise, die jeder Protagonist für sich aber verschachtelt durchmacht) gewinnen sie an Lebensqualität im Alltag und sind obendrein noch Freunde geworden.

Der Film schafft also das, was ein guter Unterhaltungsfilm tun soll. Er regt den Geist an, sich vorzustellen, was möglich wäre, welche Fähigkeiten man nutzen könnnte und dadurch bestehende gesellschaftliche Barrieren zu durchbrechen. Jeder Mensch ist vom Schöpfer mit Gaben und Fähigkeiten ausgestattet und nur gemeinsam können wir das Spiel des Lebens sinnvoll durchspielen.
Vielleicht lag es auch daran, dass ich endlich mal wieder entspannt einen nicht beruflich relevanten Film geschaut habe und mich mit Freunden gut amüsiert habe. Aber bei mir kam der Film so gut an, dass ich danach das Original nochmal angeschaut habe. Tatsächlich war ich davon dann recht enttäuscht, weil zwar der Selbstwert-Aspekt dort auch vorkommt, aber viel eindimensionaler, leistungsorientierter und dem Zeitgeist geschauldet natürlich die ganzen schönen 80er-Jahre-Adventure-Referenzen fehlen.